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  • Ausgabe 227 

Eine Region, viele Aussichten

  • Demografischer Wandel Lebensverhältnisse in Stadt und Land

Wirtschaftsstarke ländliche Räume neben schrumpfenden, gealterten Großstädten – dieses Bild scheint das genaue Gegenteil der gegenwärtigen demografischen und wirtschaftlichen Trends in Deutschland zu sein. Aber es trifft in weiten Teilen auf den nordöstlichen Teil Nordrhein-Westfalens zu, auf Westfalen-Lippe: Während die Großstädte an Emscher und Ruhr immer noch mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, suchen viele Betriebe in den eher ländlich geprägten westfälischen Regionen händeringend nach Fachkräften. Und während das ländliche Umland um die Universitätsstadt Münster mit seinen 60.000 Studierenden wächst, schrumpfen viele der bereits deutlich gealterten Ruhrgebietsstädte. Zwischen Münsterland und Siegerland, Ostwestfalen-Lippe und dem westfälischen Ruhrgebiet treffen in enger Nachbarschaft ganz unterschiedliche Entwicklungen städtischer und ländlicher Räume aufeinander.

In weiten Teilen ist die westfälische Wirtschaft durch mittelständische, familiengeführte Betriebe geprägt. Darunter sind viele „Hidden Champions“, öffentlich wenig bekannte Unternehmen, die in ihrer Branche Weltmarktführer sind und ihre Produkte in den mittelgroßen und kleinen Gemeinden herstellen. Dies macht die ländlichen Regionen bislang wirtschaftlich stark, stellt sie aber perspektivisch vor besondere Herausforderungen. Denn trotz attraktiver und vielfältiger Arbeitsmöglichkeiten kehren die jungen Menschen häufig ihrer ländlichen Heimat oder den Kleinstädten den Rücken und ziehen als „Bildungswanderer“ in die urbanen Zentren. Kommen sie nach ihrer Ausbildung nicht in ihre Heimat zurück, was eher die Regel als die Ausnahme ist, fehlen sie dort als die begehrten Fachkräfte. Hinzu kommt, dass die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, die heute noch einen gewichtigen Anteil der Arbeitskräfte stellen, demnächst in Rente gehen und eine weitere Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen werden.

Regionale Personalreserven heben

Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit vieler westfälischer Unternehmen dürfte davon abhängen, ob sie künftig noch genügend geeignete Arbeitskräfte finden. Im sich verschärfenden Wettbewerb um die jungen und klugen Köpfe müssen sie sich daher einiges einfallen lassen. Die Studie „Eine Region, viele Aussichten“ zeigt vielfältige Ansätze, die entweder bereits in den westfälischen Regionen erprobt werden oder die als Inspiration von außerhalb dienen sollten, wie Regionen und Unternehmen attraktiver für Fachkräfte werden können.

Zunächst sollten die vor Ort vorhandenen Fachkräftepotenziale besser genutzt werden. So bleibt die Erwerbsbeteiligung von Frauen immer noch deutlich hinter jener der Männer zurück. In den meisten westfälischen Kreisen ist diese Lücke weiterhin groß und es besteht Nachholbedarf bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch ältere Arbeitnehmer lassen sich mit  gezielten Weiterbildungen länger im Unternehmen halten. Schließlich sollten junge Menschen aus ländlichen Regionen rechtzeitig über die oft vielfältigen lokalen Jobchancen informiert werden. Über Ausbildungsbörsen, Rückkehrer-Initiativen oder indem Unternehmen in den Schulen um den Nachwuchs werben, erhalten junge Bleibewillige oder jene, die einst für Ausbildung oder Studium weggezogen sind, Ideen für eine berufliche Perspektive vor Ort.

Erreichbar bleiben

Doch nicht jede benötigte Fachkraft lebt bereits vor Ort oder kann als neuer Bewohner für die Region gewonnen werden. Gerade Unternehmen in ländlichen und abgelegenen Gewerbegebieten müssen daher Ideen entwickeln, wie ihre pendelnden Mitarbeiter ohne Stress und lange Anfahrten zur Arbeit kommen können. Aus Südwestfalen schickt beispielsweise ein Unternehmen täglich einen Bus nach Köln, der dort die Mitarbeiter einsammelt. Dank WLAN im Bus wird die morgendliche Fahrt ins Büro zur Arbeitszeit – ebenso der Weg nach Hause am späten Nachmittag. Ein Betrieb aus dem Münsterland ging einen anderen Weg und verlagerte seinen Standort in Bahnhofsnähe, damit die IT-Spezialisten aus der Stadt Münster auch ohne Auto anreisen können. Denn auf dieses verzichten heute viele junge Stadtbewohner.

Regionen müssen mehr bieten als nur einen Job

So engagiert einzelne Unternehmen sind und so vielfältig ihre Ideen, außerhalb der Großstädte werden sie es allein kaum schaffen, ausreichend Personal anzulocken. Denn ob sich eine potenzielle Fachkraft für ein bestimmtes Jobangebot entscheidet, hängt nicht nur von den Arbeitsbedingungen und dem Gehalt ab, sondern auch von den Wohn- und Lebensbedingungen am Unternehmensstandort. Fachkräfte mit Familienanhang erwarten auch gute Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen, eine adäquate Beschäftigung für den Lebenspartner, eine gute Nahversorgung und attraktive Freizeitmöglichkeiten.

Dort wo die Jungen wegziehen, die Einwohner weniger werden und meist ältere Menschen zurückbleiben, verschwinden Schulen, schließen Dorfläden, Landärzte finden keine Nachfolger und der öffentliche Nahverkehr dünnt aus. Die Studie zeigt, in welchen Gemeinden Westfalens dies bereits Realität ist oder sich in der Zukunft abzeichnet. Gerade in den für westfälische Verhältnisse abgelegene Gemeinden in den südwestfälischen Kreisen und in den östlichen Regionen an der Grenze zu Niedersachsen gibt es zahlreiche Ortschaften, die bereits viele Bewohner verloren haben und wo die Versorgung schlechter wird. In diesen Landstrichen gewinnen regionale Bündnisse aus Betrieben, Kreisen, Kommunen, bürgerschaftlichen Initiativen und Verbänden an Bedeutung, die gemeinsam für eine funktionierende Versorgungslandschaft sorgen.

Wenn sich herkömmliche Versorgungsmodelle nicht mehr tragen, sind Ideen für die Sicherung der Daseinsvorsorge auf dem Land gefragt. Auch in Westfalen werden neue Angebotsformen erprobt – von flexiblen Mobilitätslösungen über Ansätze, medizinischen Nachwuchs aufs Land zu locken, bis hin zur Nahversorgung per Internet. So beliefert ein regionaler Online-Händler Menschen aus Siegen und Umgebung mit Lebensmitteln und sonstigen Waren aus dem Sortiment lokal ansässiger Einzelhändler. Eine Dorfinitiative erprobt ein Car-Sharing-Modell, bei dem die Bewohner die Kleinbusse selbst fahren oder mit ehrenamtlichen Fahrer mieten können. Und beim „Bochumer Modell“ gehen Medizinstudenten der ansässigen Fakultät während ihrer klinischen Ausbildung „aufs Land“ nach Ostwestfalen-Lippe, um sich danach möglichst vor Ort als Ärzte niederzulassen und die Versorgung zu garantieren.

Gemeinsam als Westfalen punkten

Die westfälischen Regionen haben auf der Suche nach neuen Ideen für die Fachkräftesicherung und Daseinsvorsorge auf dem Land bislang unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Stärker noch als bisher können Südwestfalen, Ostwestfalen-Lippe, Münsterland und das westfälische Ruhrgebiet ihre Unterschiedlichkeit zum Vorteil nutzen. Denn in den Großstädten im Herzen der Region, wo früher Kohle und Stahl tausende Menschen mit Arbeit versorgten, befindet sich heute einer der dichtesten Hochschullandschaften Europas – und damit eine ergiebige Fachkräfteschmiede für die benachbarten Regionen, in denen der gut ausgebildete Nachwuchs allmählich knapp wird.

Auch bei der Frage, wie Kleinstädte und Dörfer auf dem Land attraktiv bleiben, sollten die westfälischen Regionen ihr Wissen austauschen. Ebenso sollten Erfahrungen aus anderen Regionen Deutschlands genutzt werden, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Nicht in jedem Dorf oder jedem Gewerbegebiet muss das Rad neu erfunden werden. Kopieren und Nachahmen ist ausdrücklich erwünscht, damit sich funktionierende Lösungen schnell durchsetzen und den Bewohnern das Leben erleichtern.

Die Studie wurde gefördert durch die Westfalen-Initiative und den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Sie kann kostenlos als PDF heruntergeladen werden

Links & Downloads

Wachsen und Schrumpfen dicht beieinander

Heute leben rund 17 Prozent mehr Menschen in der Universitätsstadt Münster als noch zur Jahrtausendwende. Ein rasantes Wachstum, das auch ins Umland ausstrahlt. Auch die Kreise Gütersloh und Paderborn in Ostwestfalen-Lippe konnten Einwohner gewinnen. Eine ganz andere Entwicklung zeigt sich dagegen im westfälischen Ruhrgebiet, wo es einzig Dortmund schafft, stabil zu bleiben. Doch die Mehrzahl der westfälischen Kreise verlor seit 2000 an Einwohnern. © Berlin-Institut
In den westfälischen Kreisen und Städten zeigt sich das typische Wanderungsmuster der 18- bis 24-Jährigen. Die Großstädte ziehen die jungen Bildungswanderer an, während die ländlichen Regionen sie nicht halten können. Mit Herne und Gelsenkirchen gewinnen inzwischen auch westfälische Ruhrgebietsstädte ohne große Universitäten und ohne attraktiven Arbeitsmarkt junge Einwohner hinzu. © Berlin-Institut
Eine Clusteranalyse hat vier Gemeindetypen in Westfalen identifiziert: Größere Städte, die zum Teil bereits deutlich gealtert sind, aber dennoch junge Menschen anziehen (Cluster 1); wirtschaftlich starke, mittelgroße Städte mit stabilen Bewohnerzahlen (Cluster 2); junge, wachsende Speckgürtel-Gemeinden im Umland der Städte (Cluster 3) sowie schrumpfende, ländliche Gemeinden, die im westfälischen Vergleich abgelegen sind (Cluster 4). © Berlin-Institut

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Nele Disselkamp

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