Von Gabriele Vogt
Unser Online-Handbuch wurde zwischen 2008 und 2011 mit einer Förderung der Robert Bosch Stiftung verfasst. Dieser Artikel spiegelt den Stand von 2008 wider.
Zuwanderungspolitik zählte bislang zu den am wenigsten beweglichen Politikfeldern in Japan. Gleichwohl hat das Land in den letzten Jahren unter dem Eindruck des demografischen Wandels nennenswerte politische Reformen angestoßen. Die bisherige Richtlinie von Japans Zuwanderungspolitik sieht vor, dass nur hoch qualifizierte Zuwanderer – und auch diese nur für einen bestimmten Zeitraum – nach Japan kommen. Angesichts der Überalterung der Gesellschaft und der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung erscheint diese Politik jedoch überholt.
Alle drei demografischen Variablen – Geburtenrate, Lebenserwartung und Migrationsbewegungen (Grafiken 1 bis 3) – weisen für Japan Extreme auf: Die Geburtenrate ist mit 1,29 Kindern pro Japanerin eine der niedrigsten der Welt, die Lebenserwartung für Männer (79 Jahre) und Frauen (86 Jahre) hingegen eine der höchsten der Welt. Nur etwa 2,2 Millionen Menschen anderer Nationalitäten leben in Japan. Ihr Anteil an Japans Gesamtbevölkerung von 127,8 Millionen beträgt damit rund 1,7 Prozent. Im Vergleich zu anderen OECD Staaten ist dies ein äußerst geringer Wert (MOJ 2007; 2008; NIPSSR 2006; OECD 2007).
Im Jahr 2005 verzeichnete Japan erstmals mehr Sterbefälle als Neugeburten oder Zuzüge. Entwickeln sich diese demografischen Variablen weiterhin konstant in die eingeschlagene Richtung, wird Japans Bevölkerung bis 2050 um etwa zwölf Prozent auf 100,5 Millionen Menschen schrumpfen (Grafik 4). Mehr als ein Drittel der Bevölkerung (35,7 Prozent) wird dann 65 Jahre oder älter sein; nur noch 10,8 Prozent werden 14 Jahre oder jünger sein (NIPSSR 2006). Dieser sich in rasantem Tempo vollziehende demografische Wandel wirkt sich in vielfacher Weise auf Japans Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme aus (Coulmas, Conrad, Schad-Seifert, Vogt 2008).
Die ökonomische Herausforderung wird deutlich, betrachtet man Japans Altersabhängigkeitsrate, also die Zahl der 15- bis 64-Jährigen im Vergleich zu den über 65-Jährigen, die nach Berechnungen des Nationalen Instituts für Forschung zu Bevölkerung und sozialer Sicherheit innerhalb eines halben Jahrhunderts von 25,5 Prozent (2000) auf 66,5 Prozent (2050) steigen wird (Grafik 5). Die Rate von Alten (über 65 Jahre) zu Jungen (unter 14 Jahre) wird sich im gleichen Zeitraum nahezu verdreifachen (NIPSSR 2006).
Arbeitsmigration kann eine politische Option dabei sein, diese Entwicklung hin zu einer außer Balance geratenen Abhängigkeitsrate zu bremsen. Eine Berechnung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 erläutert die Dimension der in Japan für verschiedene Szenarien notwendigen Ersatzmigration. So könne zum Beispiel die Abhängigkeitsrate durch den – völlig unrealistischen – Zuzug von 553 Millionen Menschen bis zum Jahr 2050 konstant gehalten werden. Mitte des Jahrhunderts hätten dann 87 Prozent der auf 818 Millionen angewachsenen Gesamtbevölkerung Japans einen Migrationshintergrund (UNPD 2000).
Japans bisherige Zuwanderungspolitik steht im klaren Kontrast zu dem von den Vereinten Nationen ins Spiel gebrachten Konzept einer Ersatzmigration. Sie hielt über Jahrzehnte hinweg an zwei Grundsätzen fest: Zuwanderung soll ausschließlich den Hochqualifizierten ermöglicht werden; und auch diese sollten lediglich eine zeitlich befristete (in der Regel maximal fünf Jahre) Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Eine genauere Betrachtung der strukturellen Charakteristika von Japans Migrationspopulation zeigt jedoch die Differenz von policy output (Richtlinien) und policy outcome (Realitäten) auf.
Die Zahl der in Japan als wohnhaft registrierten Nicht-Japaner ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Der im internationalen Vergleich noch immer geringe Anteil von 1,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung hat sich innerhalb von 15 Jahren verdoppelt (Grafik 3). Der prozentuale wie auch numerische Anstieg (eine auf zwei Millionen) von Nicht-Japanern liegt in der Revision des Zuwanderungsgesetzes von 1990 begründet.
Welche Gruppen am stärksten von dieser Gesetzesänderung betroffen sind, wird in der nach Nationalitäten getrennten Auflistung deutlich (Grafik 6). Unter den fünf größten Gruppen anderer Nationalitäten verzeichnen vier einen Populationsanstieg. Diese Zuwanderer kommen aus China, Brasilien, den Philippinen und Peru. Einzig die Gruppe der Koreaner in Japan schrumpft. Im Jahr 2007 stellte sie erstmals seit neunzig Jahren nicht die größte Gruppe in Japan, sondern wurde von der stark wachsenden Gruppe der Chinesen auf den zweiten Rang verdrängt (MOJ 2008).
Immer mehr chinesische Zuwanderer?
Die numerische Größe der koreanischen Minderheit in Japan ist historisch bedingt. Ab 1939 rekrutierten japanischen Firmen aus dem seit 1910 annektierten Korea Arbeitskräfte für die Kriegsindustrie. Aus familiären und ökonomischen Gründen entschieden sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einige Hunderttausend der in Japan ansässigen Koreaner gegen eine Rückkehr nach Korea. Sie und ihre Nachfahren leben heute mit Daueraufenthaltsgenehmigung in Japan. Der numerische Rückgang der koreanischen Minderheit in Japan hat zwei Gründe: erstens das Sterben der alternden ersten Generation von Zuzüglern; zweitens die Naturalisierungen der meist jüngeren Koreanern. Jedes Jahr nehmen mehrere Zehntausend Koreaner der dritten und vierten Generation die japanische Staatsbürgerschaft an.
Seit 2007 stellen die Chinesen in Japan die größte Gruppe unter den Nicht-Japanern. Ihr numerischer Anstieg seit den frühen 1990er Jahren geschieht in rasantem Tempo; alleine seit der Jahrtausendwende verdoppelte sich ihre Zahl auf mittlerweile über 600.000 Menschen. Die Chinesen in Japan sind eine der Gruppen, die am meisten von der Revision des Zuwanderungsgesetzes von 1990 profitieren. Dies wird deutlich in der numerischen Entwicklung der Visumsvergabe an Chinesen, die einen starken Anstieg vor allem bei Studenten und Praktikanten aufweist. Derzeit kommen mehr als drei Viertel aller Praktikanten aus China. Das in den 1980er Jahren begründete Praktikantensystem wurde 1990 auch für Unternehmen mit weniger als 20 Angestellten zugänglich gemacht. 1993 wurde das bestehende System um ein Facharbeiterpraktikum erweitert. Gedacht als entwicklungspolitische Maßnahme, die den Transfer von Technologie und Wissen garantieren soll, werden über das Praktikantensystem häufig Arbeitsplätze in Billiglohnsektoren wie der Textilindustrie und Landwirtschaft gefüllt. Einflussreiche Wirtschaftsverbände wie Nippon Keidanren plädieren nach harscher internationaler Kritik an Japans Praktikantenvisum inzwischen für eine Abschaffung des Systems.
Die so genannten Nikkeijin, Menschen japanischer Abstammung, sind eine weitere Gruppe von Zuwanderern, denen die Gesetzesrevision von 1990 den Weg nach Japan geebnet hat. Sie profitieren seit 1990 von einer Sonderregelung, die Japanischstämmigen eine Langzeitaufenthaltsdauer inklusive Arbeitserlaubnis gewährt. Nikkeijin wandern überwiegend aus den Ländern Südamerikas, vor allem aus Brasilien und Peru nach Japan ein. Sie sind die Nachfahren der ehemals aus Japan Ausgewanderten: Bis 1942 emigrierten alleine 190.000 Japaner nach Brasilien; bis Ende der 1980er Jahre wuchs die japanische Gemeinde Brasiliens durch weiteren Zuzug und Familiengründung auf über eine Million Menschen an. Innerhalb von fünfzehn Jahren nach der Gesetzesrevision verfünffachte sich die brasilianische Nikkeijin-Population in Japan auf über 300.000 Menschen (MOJ 2007; 2008). Nikkeijin stellen mittlerweile neben den Praktikanten einen weiteren Pool an Billiglohnarbeitskräften dar. Sie arbeiten vor allem in der Automobilbranche und der Elektroindustrie.
Während die Richtlinien der japanischen Zuwanderungspolitik alleine die temporäre Zuwanderung von Hochqualifizierten vorsieht, zeigt die Realität ein völlig anderes Bild. Betrachtet man Japans Migrationspopulation aufgeschlüsselt nach ihren Aufenthaltskategorien wird deutlich, dass 64,8 Prozent über eine Daueraufenthaltserlaubnis (überwiegend Koreaner) oder Langzeitaufenthaltserlaubnis (überwiegend Nikkeijin) verfügen beziehungsweise als Familienangehörige von japanischen Staatsbürgern eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis haben. Der Erwerb keiner dieser Visumskategorien setzt voraus, dass ein Nachweis über eine berufliche Hochqualifizierung erbracht werden müsste. Addiert man dazu 14,2 Prozent für verschiedene Gruppen von Studierenden (eingeschränkte Arbeitserlaubnis) und Praktikanten (on-the-job-training), beläuft sich der Anteil der geringqualifizierten Beschäftigen anderer Nationalitäten in Japan auf insgesamt 79 Prozent (Grafik 7).
Campbell, John Creighton (2008): Politics of Old-Age Policy-Making. In: Coulmas, Florian; Conrad, Harald; Schad-Seifert, Annette; Vogt, Gabriele (Hg.): The Demographic Challenge. A Handbook about Japan. Leiden/Boston: Brill, S. 653–665
Coulmas, Florian; Conrad, Harald; Schad-Seifert, Annette; Vogt, Gabriele (Hg., 2008): The Demographic Challenge. A Handbook about Japan. Leiden/Boston: Brill
Deutsches Institut für Japanstudien (DIJ), www.dijtokyo.org
Kingma, Mireille (2006): Nurses on the Move. Migration and the Global Health Care Economy. Ithaca/London: Cornell University Press
Matsutani, Akihiko (2006): Shrinking-Population Economics, Lessons from Japan. International House of Japan.
MHLW, Ministry of Health, Labour and Welfare (2006): Shogyo hokenshi, josanshi, kangoshi, jukangoshiso, nenreikaikyo, nenjibetsu. www.mhlw.go.jp/toukei/saikin/hw/eisei/06/dl/data_0006.pdf
MOJ, Ministry of Justice (2007): Immigration Control 2007. www.moj.go.jp/NYUKAN/nyukan68.html
MOJ, Ministry of Justice (2008): Heisei 19 nenmatsu genzai ni okeru gaikokujin torokusha tokei ni tsuite. http://www.moj.go.jp
NIPSSR, National Institute for Population and Social Security Research (2006): Population Statistics of Japan 2006. www.ipss.go.jp/p-info/e/PSJ2006.pdf
OECD, Organisation for Economic Co-Operation and Development (2007): International Migration Outlook. SOPEMI 2007 Edition. Paris: OECD Publications.
Sakanaka, Hidenori; Asakawa, Akihiro (2007): Imin kokka Nippon. Tokyo: Kajo
Shinozaki, Masami (2007): Opening the Door to Migrant Care Workers for the Elderly in Japan. What Can We Learn from the EU and East Asia? In: Asian Breeze, Nr. 51 (Oktober 2007), S. 5–6
Tachibanaki, Toshiaki (2006): Amerikagata fuan shakai de ii no ka. Tokyo: Asahi Shinbunsha.
UNPD, United Nations Population Division (2000): Replacement Migration: Is it a Solution to Declining and Ageing Populations? www.un.org/esa/population/publications/migration/migration.htm
Vogt, Gabriele (2007): Closed Doors, Open Doors, Doors Wide Shut? Migration Politics in Japan. In: Japan aktuell. Journal of Current Japanese Affairs, 5/2007, S. 3–30
Zum Download: www.dijtokyo.org/doc/20071001ja-Studie-Vogt.pdf
Yamawaki, Keizo; Yokohama shiritsu icho shogakko (2006): Tabunka kyosei no gakkozukuri. Tokyo Akashi Shoten
Yashiro, Naohiro (2008): The Silver Markets in Japan Through Regulatory Reform. In: Kohlbacher, Florian; Herstatt, Cornelius (Hg.): The Silver Market Phenomenon. Business Opportunities in an Era of Demographic Change. Heidelberg: Springer, S. 31–39
Stand: Oktober 2008