Europas demografische Zukunft
In der Ökonomie des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr große Industrieanlagen, Agrarland oder Bodenschätze die wichtigsten Ressourcen, sondern die Kenntnisse und Fähigkeiten von Menschen. Jene Länder und Regionen, die es schaffen, diese häufig als Humankapital oder Humanvermögen bezeichnete Summe von Fertigkeiten stetig auszubauen, dürfen auf beständigen Wohlstand hoffen.
Europa steht dabei vor einem gravierenden Problem. Denn wegen der anhaltend niedrigen Kinderzahlen schrumpfen vielerorts die Bevölkerungen. Praktisch flächendeckend gehen immer mehr Menschen in Rente, während immer weniger Nachwuchskräfte in den Arbeitsmarkt nachrücken. Unter diesen Bedingungen wird es schwieriger, Sozialleistungen in gewohntem Maße bereitzustellen. Gleichzeitig lässt sich der Wohlstand nur dann halten oder gar ausbauen, wenn die verbleibenden Arbeitskräfte produktiver werden – sprich in der gleichen Zeit mehr Waren und Dienstleistungen produzieren.
Die Hoffnungen hierauf haben in den letzten Jahren mehr als einen Dämpfer erhalten. Zunächst hatte die globale Finanzkrise, die sich schnell zur veritablen Wirtschaftskrise auswuchs, diverse europäische Staaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit getrieben. Im Schlepptau brachte sie Massenarbeitslosigkeit vorwiegend junger Menschen, die vielerorts bis heute anhält. All dies hat direkte Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung gehabt: Die Wirtschaftskrise hat eine neue Süd-Nord-Wanderung innerhalb Europas ausgelöst. Auch die Geburtenziffern blieben nicht verschont. Sie waren in den 2000er Jahren in vielen Regionen leicht gestiegen, fielen aber in Folge der wirtschaftlichen Unsicherheit während der Rezession schnell wieder. Dass die Bevölkerungszahlen in bestimmten Gebieten trotz niedriger Kinderzahlen steigen, ist auch Folge der starken Zuwanderung Schutzsuchender aus Asien und Afrika. Diese bringt aber gerade hinsichtlich der Integration zahlreiche neue Herausforderungen mit sich.
Beim Umgang mit vielen dieser Umwälzungen sitzen die europäischen Nationen und Regionen im gleichen Boot – etwa bei der Bewältigung der Flüchtlings- und de facto auch der Schuldenkrise. Misserfolg ist hier für alle gleichermaßen gefährlich: In letzter Konsequenz steht das Scheitern des Euro oder gar der Europäischen Union zur Debatte. Bei anderen Themen sind die Staaten dagegen Konkurrenten, etwa bei den europäischen Binnenwanderungen. Innerhalb Europas ist hierbei des einen Landes Gewinn des anderen Landes Verlust.
Norden und Westen vorne, Süden und Osten zurück
Wo also stehen die Regionen Europas anno 2017? Dies hat das Berlin-Institut anhand einer Palette von Indikatoren aus den Bereichen Demografie und Wirtschaft analysiert. Insgesamt wurden 290 europäische Regionen untersucht und in einem Index in eine Rangfolge gebracht. Dabei zeigt sich, dass vor allem Regionen im Herzen sowie im Norden Europas gut auf demografische Herausforderungen vorbereitet sind. Ganz vorne liegen Stockholm, die Nordwestschweiz und Zürich. Ähnlich gut schneiden Oberbayern, das westliche, innere London, Vorarlberg, die Zentralschweiz und die Genferseeregion ab. Sie alle punkten mit ihrer Wirtschafts- und Innovationskraft, die zahlreiche Zuwanderer anzieht. Letztere wiederum verjüngen die Altersstruktur und sorgen dafür, dass diese Regionen trotz ihrer teils unterdurchschnittlichen Kinderzahlen sowie der recht hohen Lebenserwartung zu den jüngeren des Kontinents zählen. Auch die anderen Regionen der Schweiz sowie große Teile Süddeutschlands sind demografisch und wirtschaftlich gut aufgestellt.
Die Schweiz ist mit ihrer durchweg hervorragenden Lage allerdings eine Ausnahme. Überall sonst auf dem Kontinent lassen sich auch innerhalb der Länder Gefälle erkennen. So schneiden fast flächendeckend die Hauptstädte besser ab als der Rest der Länder. Gerade periphere Regionen kämpfen oft vergeblich gegen die Logik von Abwanderung junger Menschen und der sich daraus ergebenden Alterung. Dies gilt insbesondere für Osteuropa. Hier führen das große Wohlstandsgefälle gegenüber dem Westen des Kontinents sowie die weit verbreitete Armut gerade in ländlichen Regionen zu großen Wanderungsverlusten.
Doch auch anderswo konzentrieren sich demografische Herausforderungen in der Peripherie. Beispiel Italien: Hier hat die jahrzehntealte Spaltung zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nichts an Aktualität eingebüßt. So zählen die Regionen Süditaliens europaweit zu jenen mit den geringsten Kinderzahlen und gleichzeitig den am wenigsten aufnahmefähigen Arbeitsmärkten. Weniger als die Hälfte aller Frauen zwischen 25 und 64 Jahren nimmt hier am Erwerbsleben teil.
Der Süden Italiens steht mit seinen Herausforderungen in einer Reihe mit dem Rest Südeuropas, wo die Wirtschaftskrise besonders stark nachwirkt. In Griechenland, Spanien und Süditalien liegt die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Regionen weiter bei etwa 50 Prozent. Viele Jugendliche und junge Erwachsene haben weder einen Job, noch bilden sie sich weiter. Diese Perspektivlosigkeit könnte langfristige Folgen haben. So ist bereits heute zu beobachten, dass Frauen in Südeuropa in der Krise noch weniger Kinder bekommen als sie es ohnehin tun – viele aus Kostengründen. Portugal ist mit durchschnittlich 1,31 Kindern je Frau aktuell das EU-Land mit der niedrigsten Geburtenziffer. Insgesamt liegen die elf kinderärmsten Regionen der EU in Spanien, Italien und Portugal – „angeführt“ vom nordspanischen Fürstentum Asturien mit lediglich 1,01 Kindern je Frau. Bis zur Mitte des Jahrhunderts dürfte diese Entwicklung dazu führen, dass die Gesellschaften Südeuropas die mit Abstand ältesten Europas sind. Am stärksten schrumpfen dürfte derweil der Osten des Kontinents. Einige Regionen im Norden Bulgariens könnten allein bis 2030 etwa ein Fünftel ihrer Einwohner verlieren.
Die Studie "Europas demografische Zukunft. Wie sich die Regionen nach einem Jahrzehnt der Krisen entwickeln" entstand mit Förderung des GfK Vereins. Zusätzliche Unterstützung erfolgte durch das Kai Drabe Family Office Berlin.
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