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  • Ausgabe 247 

Teilhabeatlas Deutschland – Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen

  • Lebensverhältnisse in Stadt und Land Demografischer Wandel
© Berlin-Institut

Große Unterschiede in Deutschland

Wie gut die Menschen in Deutschland am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, hängt zu einem guten Teil davon ab, wo sie wohnen – an der Küste im Norden, im Westen an Rhein und Ruhr, im Alpenvorland im Süden oder im Osten an Unstrut und Oder. Besonders gut sind die Chancen in Baden-Württemberg, in Teilen Bayerns und im südlichen Hessen. Nördlich davon finden sich nur vereinzelt Regionen, die ihren Bewohnern einen vergleichbaren Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe bieten. Mit Ausnahme des brandenburgischen Kreises Dahme-Spreewald im Berliner Umland liegen diese ausschließlich im alten Bundesgebiet.

Deutlich schlechter steht es um die Teilhabemöglichkeiten in den meisten ostdeutschen Regionen, die drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch in vielen Bereichen zurückhängen. Nur einzelne ländliche Kreise in den Speckgürteln attraktiver Großstädte wie Berlin oder Dresden sind besser aufgestellt. Auch die Bewohner der meisten ostdeutschen Städte müssen mit vergleichsweise geringen Teilhabechancen leben. Dieses Schicksal teilen sie aber mit den Bewohnern einiger westdeutscher Städte, vor allem im Ruhrgebiet, aber auch im Südwesten von Rheinland-Pfalz, im Saarland sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Berlin-Instituts und der Wüstenrot Stiftung. Die Studie untersucht, welche gesellschaftlichen Teilhabechancen die 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte ihren Bewohnern bieten. Gemessen wurde die Teilhabe anhand einer Reihe von Indikatoren wie der Quote von Sozialleistungsempfängern, der Höhe der Einkommen, der Verfügbarkeit schneller Internetzugänge oder der Erreichbarkeit von Ärzten, Supermärkten und weiteren alltäglichen Dienstleistungen.

Im Ergebnis zerfällt die Republik in sechs Bereiche, die sich in ihren Rahmenbedingungen ähneln: drei städtische und drei ländliche „Cluster“ mit jeweils guten, mäßigen und geringeren Teilhabechancen. Die daraus erstellte Landkarte, eine Art „Teilhabeatlas“, zeigt, wo die gut versorgten und wo im Extremfall die „abgehängten“ Regionen Deutschlands liegen.

Subjektive Wahrnehmung objektiver Bedingungen

Aber wie nehmen die Menschen diese tatsächlichen Lebensbedingungen wahr – gleich, besser oder schlechter als es die objektiven Zahlen erwarten lassen? Um die gefühlten Teilhabechancen mit den erhobenen Daten abzugleichen, sind wir in 15 Regionen aus allen sechs Clustern gereist und haben insgesamt fast 300 Einzelinterviews und Gruppengespräche geführt: mit Bürgern und Politikern, mit Verwaltungsmitarbeitern, Wirtschafts- und Medienvertretern sowie mit Menschen, die ehrenamtlich oder hauptberuflich im sozialen Bereich arbeiten. Das Ergebnis ist zwar nicht repräsentativ, gibt aber einen guten Einblick in das Lebensgefühl vor Ort.

In den Gesprächen zeigte sich, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen weitgehend realistisch einschätzen. Mit den Unterschieden bei den Teilhabechancen gingen sie recht nüchtern und pragmatisch um. Je nach Wohnort haben sie auch andere Erwartungen an ihr Umfeld. Die meisten der befragten Landbewohner sind sich des Nachteils bewusst, dass sie zum Arbeiten pendeln müssen und für größere Erledigungen auf die nächste, größere Stadt angewiesen sind. Trotzdem äußerten sie mehrheitlich, dass sie gern dort leben. Umgekehrt haben sich die Menschen in Regionen, die der Datenlage nach die besten Lebensbedingungen bieten, auch über Missstände beschwert.

Was die Wahrnehmung beeinflusst

Haben Bewohner das Gefühl, dass sich ihre Region positiv entwickelt, schätzen sie auch ihre persönliche Lage optimistisch ein. Gerade dort, wo die Menschen nach einer langen Durststrecke wieder einen Aufwärtstrend verspüren, fällt der Ausblick der Befragten positiv aus. Umgekehrt erlebten wir in den Gesprächen, dass ein Gefühl entsteht, abgehängt zu sein, wenn die Perspektiven fehlen und der Niedergang chronisch wird. Wie die Befragten die Entwicklung beschrieben, hing dabei oft mit Veränderungen im unmittelbaren Umfeld zusammen. Wenn der Dorfladen schließt oder das Krankenhaus auf der Kippe steht, empfinden viele dies als problematisch – selbst wenn sich die Region als Ganze positiv entwickelt. Nicht zuletzt prägt der Vergleich mit anderen Gemeinden und Regionen die Einschätzung, wie gut die eigene Region aufgestellt ist. Abhängig davon, ob die Gemeinde oder Region, die als Vergleich dient, als mehr oder weniger erfolgreich wahrgenommen wird, fühlen sich viele Befragte eher benachteiligt oder sind optimistisch eingestellt.

Was die Menschen hält

Ob auf dem Land oder in der Stadt, ob in einer Boom- oder Schrumpfregion, überall berichteten uns Gesprächspartner von einer besonderen Bindung zu ihrer „Heimat“. Manche ehemaligen Dorfbewohner kehren nach dem Studium oder der Ausbildung in der Stadt gerne aufs Land zurück, wenn sie ein Auskommen finden können. In Städten wie auch auf dem Land haben wir aber auch Zugezogene getroffen, die angeben, sich in ihrer Wahlheimat zuhause zu fühlen. Das Gefühl der Verbundenheit zu einer Region bewirkt, dass viele Befragte über gewisse Defizite bei den Teilhabechancen hinwegsehen.

Wer sich einem Ort verbunden fühlt, ist eher bereit, sich zu engagieren und zur Verbesserung der Lebensbedingungen beizutragen. Zahlreiche Vereine, Bürgerbusse oder Dorfläden zeugen davon. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, hängt aber auch von den Erzählungen der Bewohner über sich selbst und ihre Mitmenschen ab: Wenn Befragte ihren „Menschenschlag“ als eher aktiv beschreiben, ist tendenziell auch ein ausgeprägtes Gefühl der Selbstwirksamkeit zu verspüren und eine vermehrte Bereitschaft sich zu engagieren. Das erklärt zumindest teilweise, weshalb Gelegenheiten, sich einzubringen, nicht immer in gleicher Weise genutzt werden. Vor allem in angeschlagenen ländlichen Regionen in Ostdeutschland stehen viele Befragte dem Gedanken, selbst die Initiative zu ergreifen, skeptisch gegenüber und glauben nicht, mit ihrem Einsatz etwas bewirken zu können. Missstände zu beheben sei Aufgabe der Politik.

Die Rolle der Politik

Es ist ein erklärtes Ziel der Bundesregierung, für „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in allen Teilen des Landes zu sorgen. Sie hat allerdings bis heute nicht definiert, wie Gleichwertigkeit überhaupt auszusehen hätte. Das macht es nahezu unmöglich, ungleichwertige Lebensverhältnisse zu benennen, geschweige denn, Gleichwertigkeit herzustellen. Letztlich stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, ein vergleichbares Maß für die Lebensverhältnisse zu finden, das mehr ist als eine beliebige Gleichung, in der sich alles miteinander verrechnen lässt? Hat also der weite Blick auf das leere Land den gleichen Wert wie der fußläufig zu erreichende U-Bahnhof? Ohnehin entwickeln sich die Regionen wirtschaftlich und demografisch sehr unterschiedlich und bringen oft grundlegend verschiedene Voraussetzungen mit.

Die Politik wird den Bevölkerungsschwund in peripheren Regionen oder den Strukturwandel in den klassischen Industrierevieren kaum aufhalten oder gar umkehren können. Die Erfahrung zeigt, dass sich beides auch mit viel Geld nicht stoppen lässt. Mit Versprechen einer Gleichwertigkeit erweckt die Politik unrealistische Erwartungen, die Enttäuschungen und weitere Frustrationen nach sich ziehen. Stattdessen sollte sie die Realität anerkennen und ihre eigenen Möglichkeiten nüchtern einschätzen. Aufgrund der Vielfalt der Lebensbedingungen sollte sie aber dennoch nach geeigneten und an den jeweiligen regionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen orientierte Lösungen suchen, um den Menschen überall im Land eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

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Gute Teilhabechancen vor allem im Süden – der Osten hängt weiterhin zurück

Mittels einer Clusteranalyse haben wir die kreisfreien Städte und Landkreise in sechs Gruppen zusammengefasst, die ihren Bewohnern jeweils ähnliche Teilhabechancen bieten. Cluster 1 umfasst städtische und Cluster 4 ländliche Regionen, die ihren Einwohnern gute Teilhabechancen ermöglichen. Im städtischen Cluster 2 sowie im ländlichen Cluster 5 stehen die Menschen vor vereinzelten Hürden bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Regionen, die sich im städtischen Cluster 3 sowie im ländlichen Cluster 6 befinden, bieten den Menschen die im bundesweiten Vergleich geringsten Chancen zur Teilhabe. © Berlin-Institut

ANSPRECHPARTNER:INNEN

Dr. Frederick Sixtus

Projektkoordinator Demografie Deutschland

Telefon: 030 - 31 10 26 98

E-Mail schreiben: sixtus@berlin-institut.org

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Sabine Sütterlin

Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin

Sabine Sütterlin freie wissenschaftliche Mitarbeiterin

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