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  • Ausgabe 249 

30 Jahre Mauerfall: Deutschland einig Vaterland?

  • Lebensverhältnisse in Stadt und Land

Die Nachwendejahre waren demografisch von zwei Extremen geprägt: Erstens setzte mit dem Fall der Mauer eine Wanderungsbewegung von Ost- nach Westdeutschland ein. Seit 1990 haben die ostdeutschen Länder insgesamt 1,9 Millionen Menschen in Richtung Westen verloren. Doch die Wanderungsverluste sind seit der Jahrtausendwende kontinuierlich gesunken. Seit 2012 ziehen Jahr für Jahr ähnlich viele Menschen aus Ostdeutschland in Richtung Westen wie umgekehrt.

Zweitens sahen sich diejenigen, die nach der Wende blieben, mit unsicheren Zeiten oder neuen Lebensoptionen konfrontiert, weshalb viele junge Frauen eine Familiengründung erst einmal aufschoben. Dies führte dazu, dass Mitte der 1990er Jahre die durchschnittliche Kinderzahl ostdeutscher Frauen nur noch 0,8 betrug, ein historischer Tiefstand. Doch auch die niedrigen Geburtenzahlen waren kein langfristiger Trend. Die ostdeutschen Frauen holten die Familiengründung nach und 2006 hatten sich die Geburtenziffern in Ost und West wieder angeglichen.

In ihrem Wanderungs- und Geburtenverhalten sind Ost und West inzwischen also wiedervereinigt und weitgehend auf gleichem Kurs – doch die Jahre nach dem Mauerfall haben Spuren hinterlassen, die noch lange sichtbar bleiben werden.

Heute zieht es die Menschen in die urbanen Zentren. Auf der Suche nach Arbeitsplätzen, Bildungs- und Kulturangeboten drängen besonders junge Menschen in die Städte und ihr Umland. Die demografischen Verlierer sind die ländlichen Regionen – auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze.

Neben West-Ost und Stadt-Land prägt ein drittes Gefälle das Land: Süd-Nord. Die wirtschaftsstärksten Kreise liegen vor allem in Süddeutschland. In Bayern und Baden-Württemberg verhelfen zahlreiche Unternehmen den Menschen zu guten Jobs mit hohen Einkommen. Im Norden dagegen schneiden Bundesländer wie Schleswig-Holstein eher schlecht ab. Es gibt kaum Großunternehmen und der Region fehlen hochqualifizierte Arbeitskräfte.

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat im Jubiläumsjahr des Mauerfalls zwei Studien vorgelegt, die die Regionen Deutschlands näher unter die Lupe nehmen. „Die demografische Lage der Nation“ zeigt anhand eines Index, wie gut gerüstet die 401 deutschen Kreise und kreisfreien Städte für ihre demografische und wirtschaftliche Zukunft sind. Der „Teilhabeatlas Deutschland“ wiederum verdeutlicht, dass die Chancen auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben regional sehr unterschiedlich sind. Die seit bald 30 Jahren vereinigte Bundesrepublik bleibt ein Land der Gegensätze, das belegen beide Untersuchungen deutlich. Die folgenden Grafiken zeigen, wo das Land heute geteilt ist.

Zwischen 1995 und 2017 haben besonders die ostdeutschen Bundesländer große Teile ihrer Bevölkerung verloren. Die Abwanderung und der Einbruch der Geburtenraten
haben ihre demografischen Spuren hinterlassen. In der Bevölkerungsstruktur der ostdeutschen Länder fehlen die 1,9 Millionen abgewanderten Menschen sowie eine halbe Nachwuchsgeneration. Diese Lücken bleiben bestehen und werden sich künftig massiv auf die demografischen und wirtschaftlichen Zukunftschancen auswirken. Im Osten finden sich die Regionen mit den höchsten prognostizierten Einwohnerrückgängen. Hier liegen die 23 deutschen Kreise, die bis 2035 mehr als jeden fünften Bewohner verlieren dürften. Der Überschuss der Sterbefälle über die Geburten beschleunigt dort den demografischen Abwärtstrend. Im brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße dürfte beispielsweise im Jahr 2035 auf vier Beerdigungen gerade einmal eine Geburt kommen. Nur die ostdeutschen Metropolen wie Dresden und Leipzig widersetzen sich diesem Trend. Wie Wachstumsinseln ragen sie aus einem Meer des Schrumpfens heraus. Leipzig verzeichnet sogar bundesweit die größten Wanderungsgewinne und dürfte auch bis 2035 von allen deutschen Kreisen und kreisfreien Städten mit 16 Prozent am stärksten wachsen.
© Berlin-Institut
Die Studie „Die demografische Lage der Nation“ bewertet die Wirtschaft der Kreise anhand von Indikatoren wie der Beschäftigungsquote, dem verfügbaren Haushaltseinkommen und dem Anteil von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Im Ergebnis wird statt eines Ost-West Unterschieds eher ein Süd-Nord Gefälle sichtbar. Einige Kreise in Thüringen, aber auch in Sachsen und Brandenburg – dort ausschließlich in Hauptstadtnähe – konnten zu den erfolgreichen bayerischen und baden-württembergischen Regionen aufschließen. Sie können mit hoher Beschäftigungszahl, vor allem von Frauen und älteren Menschen, punkten. Sachsen nahm mit einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent zwischen 2013 und 2017 im Ranking der Studie sogar den dritten Platz unter allen Bundesländern ein. Ruhrgebiet und Saarland haben hingegen mit Problemen zu kämpfen. Allen Bemühungen zum Trotz ist es dort nicht gelungen, die Folgen des Niedergangs von Kohle und Stahl zu bewältigen. Die Beschäftigungsquoten sind niedrig und vor allem gering qualifizierte Arbeitslose finden keinen Weg zurück in den Arbeitsmarkt. © Berlin-Institut
Der Teilhabeatlas zeigt, dass die Unterschiede zwischen den Regionen nicht nur zwischen Ost und West bestehen. Danach bieten zahlreiche westdeutsche Städte im Ruhrgebiet, aber auch in Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ihren Bewohnern ähnlich geringe Teilhabechancen wie die Mehrzahl der Städte zwischen Rügen und dem Erzgebirge. Gemessen wurde die Teilhabe anhand einer Reihe von Indikatoren wie der Quote von Sozialleistungsempfängern, der Höhe der Einkommen, der Verfügbarkeit schneller Internetzugänge oder der Erreichbarkeit von Ärzten, Supermärkten und weiteren alltäglichen Dienstleistungen. Die geringsten Teilhabechancen bieten demnach vor allem ländliche Gebiete in Ostdeutschland. Sie drohen in eine Abwärtsspirale aus Bevölkerungsschwund, finanziellen Problemen und schwindenden Versorgungsangeboten zu geraten. Wenn den Bewohnern dieser Regionen die Perspektiven fehlen und der Niedergang chronisch wird, kann das Gefühl entstehen, von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt zu sein. © Berlin-Institut

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